In Amerika ein vieldiskutierter Trend, in Deutschland noch in den Kinderschuhen: Massive Open Online Courses – kurz MOOCs – bieten gratis weiterbildende Kurse auf Universitätsniveau mit entsprechenden Zertifikaten. Freie Bildung für alle – eine Utopie, die mittels MOOCs verwirklicht wird?
Weiterbildung, lebenslanges Lernen, Flexibilität – allenthalben hören wir, dass es mit dem Hochschulabschluss allein nicht getan ist. Das Lernen hört nie auf. Immer schneller, immer mehr, immer weiter. So sitze ich eines Sonntags vor meinem Computer statt mit Freunden im Café und suche nach Weiterbildungsmöglichkeiten. Vielleicht an der Volkshochschule mein Spanisch auffrischen? Die Kurszeiten beißen sich mit meinem Sport. Vielleicht jeden Tag ein Video von der Khan Academy schauen, einer Seite mit tausenden Erklärvideos von Wirtschaft bis Geschichte und Philosophie? Ist wie bei allen guten Vorsätzen: Macht man eh nicht. Viel Geld für kommerzielle Anbieter ausgeben? Dagegen hat mein Geldbeutel etwas einzuwenden. Was also tun? Ich mache mir ersteinmal einen Kaffee.
Eine neue Bildungsrevolution?
Dann stoße ich auf MOOCs. Massive Open Online Courses. Der Hype des Jahres in den USA – immerhin wurde das Wort von der New York Times zum Schlagwort des Jahres 2012 gekürt. In Deutschland sind MOOCs dagegen bisher noch nicht ganz angekommen, auch wenn die Presse das Thema langsam für sich entdeckt – so zum Beispiel Mercedes Bunz für den Tagesspiegel.
Aber was sind MOOCSs? Es handelt es sich – wie der Name schon sagt – um Onlinekurse, die gratis sind („open“) und einer theoretisch unendlich großen Zahl an Teilnehmern („massive“) offen stehen. Außerdem bieten sie umfangreiche Interaktionsmöglichkeiten für die Studierenden untereinander. MOOCs leben also davon, dass viele Studierende teilnehmen: Je mehr es sind, desto besser und intensiver die Diskussion. Der Clou: Am Ende nimmt man an einer Prüfung teil und erhält ein entsprechendes Zertifikat. Die Universität Freiburg, die FU Berlin und die TU München erkennen als erste deutsche Universitäten bestimmte Kurse eines Anbieters, Udacity, als reguläre Prüfungsleistungen an. Klingt vielversprechend.
Also entscheide ich mich für ein MOOC. Ich will mich weiterbilden, ich will ein hohes Niveau und ich will einen Nachweis dafür haben. In Deutschland gibt es leider keine einzige Institution, die MOOCs anbietet. Schauen wir also nach Amerika. Dort sind derzeit drei Projekte am Start: 1. edX, eine gemeinnützige Plattform, die von Harvard und dem MIT gegründet wurde, allerdings noch in den Kinderschuhen steckt, 2. Udacity, das sich derzeit nur an Physiker und Informatiker richtet sowie 3. Coursera, das Kurse in allen Bereichen anbietet und bereits einige hundert Seminare auf Lager hat. Weitere Anbieter werden bald folgen, zum Beispiel die britische Plattform Futurelearn, die bisher allerdings noch recht leer ist.
Die Plattformen haben dabei ambitionierte Ziele: Udacity möchte bereits 2013 ein komplettes Informatikstudium online anbieten – von der Einführungsvorlesung bis zum hochspezialisierten Masterkurs. Dabei sollen einzelne deutsche Lehrstühle bereits Credits akzeptieren, die auf bei Udacity gesammelt wurden. Einen Anspruch darauf hat man allerdings nicht. Coursera schreibt als Ziel aus, „Milliarden von Menschen eine Weltklassebildung zu ermöglichen“. Und edX ruft mit MOOCs die Bildungsrevolution aus. Gut gebrüllt, Löwe.
Nun geht es ans Ausprobieren. Da ich kein Technikfreak bin, fällt meine Wahl auf Coursera. Die MOOC-Plattform wurde im April 2012 von zwei Stanford-Professoren gegründet. Mittelfristig will die Firma Gewinn machen, die Kurse sollen allerdings gratis bleiben. Auch Udacity ist profitorientiert, nur edX ist komplett wohltätig. Geld wollen die Webseiten vor allem damit verdienen, dass Kursteilnehmer ihre Klausuren gegen eine Gebühr in Testcentern machen und dafür ein entsprechend „wertigeres“ Zertifikat erhalten – am Computer zuhause kann man ja schummeln.
Ich belege den Kurs „Organizational Analysis“. Die erste Vorlesung ist vielversprechend: Sie ist interessant, verständlich und wird regelmäßig von Quizfragen unterbrochen – so ist sicher gestellt, dass man auch wirklich zuhört. Das dazugehörige Forum ist voll mit Diskussionen, Fragen und Antworten. Eine globale Community studiert gemeinsam. Ich bin begeistert.
Nach der Vorlesung möchte ich gerne die entsprechenden Materialien lesen – doch hier folgt die Überraschung: Die meisten sind kostenpflichtig. Die Preise sind nicht hoch (zusammen 10 Dollar für die erste Einheit), aber das läppert sich ja mit der Zeit. Klarstellung vom Dozenten im Forum: Da die Dokumente per Copyright geschützt sind, könne man sie beim besten Willen nicht gratis weitergeben. Die Bezahlmaterialien seien sowieso nur nötig, wenn man tief einsteigen möchte. Wer sowieso studiert und damit Zugang zu einer Unibibliothek hat, kann sich die Materialien natürlich auch so besorgen. Wer das nicht kann, der hat Pech. Da läuft also noch einiges unrund. Aber noch sind MOOCs ja auch neu, da lässt sich noch einiges verbessern.
MOOCs – der Schlüssel zur Demokratisierung von Bildung?
Gerade in Entwicklungsländern ist der Mangel an (guten) Universitäten ein großes Problem. Wenn es keine beziehungsweise keine gute Lehre gibt, haben auch die talentiertesten jungen Menschen keine Chance auf gute Hochschulbildung. MOOCs wären hier ein Rezept, preisgünstig exzellente Lehre auch noch an den hintersten Ort der Welt zu bringen – vielleicht auch in Kombination mit Präsenzlehre. Allerdings wittern hier einige Kritiker Bildungskolonialismus – der reiche Norden diktiert den weltweiten Wissenskanon.
Ich frage Anja C. Wagner, die seit Jahren zu Bildungsthemen forscht. Sie sieht diese Frage entspannt: „Wer sagt, dass MOOCs ausschließlich aus dem Westen initiiert werden müssen? Auch in Asien wächst der Online-Bildungsmarkt rasant – und angesichts der dort vorherrschenden Experimentierfreude könnte ich mir durchaus vorstellen, dass bald ganze Länder daran gehen, die Präsenz-(Hoch-)Schulen zurückzufahren.“
Doch sind MOOCs wirklich ein Konzept für die breite Masse? Bei MOOCs ist die Eigenmotivation extrem wichtig, denn man steht zeitlich und sozial nicht unter Druck. Gerade schwächere Studierende brauchen persönliche Betreuung – und die bieten diese Art von Onlinekursen ja gerade nicht. Laut Wagner wird ein MOOC-Vollstudium „derzeit nur Personen mit sehr hoher Selbstmotivation glücken. Insofern wird es in unseren Breitengraden noch einige Zeit diverser Unterstützungsleistungen bedürfen, die sich vor allem rund um die Bereitstellung von Lernräumen und -zeiten gruppieren.“
Deutschland: Kein Internetanschluss unter dieser Nummer?
In Deutschland experimentiert noch niemand mit MOOCs. Anja Wagner hält dies für ein großes Versäumnis: „Die hiesigen Hochschulen werden derzeit von dieser Entwicklung überrollt. Sie haben schlichtweg den Anschluss verpasst und das Potenzial informeller Vernetzungen unterschätzt.“
Was können deutsche Hochschulen besser machen? Wagner ist sich nicht sicher. „Eigene MOOCs diesem englischsprachigen Angebot entgegenzustellen, dürfte weniger attraktiv sein für Studierende. Es braucht einer gewissen kritischen Masse, um innerhalb eines solchen Kurses genügend Potential für vielfältige Interaktionen zwischen den Studierenden zu ermöglichen. Es wird interessant sein zu beobachten, wie sie mit dieser für sie unerwarteten Konkurrenz umgehen.“
Update 31. Januar 2013: So schnell ändern sich die Dinge: Das Interview mit Anja Wagner fand im November 2012, seitdem ist ein Anbieter in Deutschland dazu gekommen – die Leuphana Digital School. In diesem Pilotprojekt arbeiten Teams unter Leitung des weltberühmten Architekten Danien Liebeskind an dem Thema „ThinkTank – Ideal City of the 21st Century“ – das ganze findet online statt und jeder kann gratis mitmachen. Gegen eine kleine Gebühr erhalten Teilnehmer am Ende ein Zertifikat, das sie als Prüfungsleistung versuchen können, in ihr Studium einzubringen. Spannende Sache!
(K)eine Revolution?
Der Schweizer Sozialunternehmer Michel Bachmann sieht im Hochschulbildungsbereich dringenden Veränderungsbedarf. „Higher Education ist die nächste Blase, die platzt. Damit meine ich die ganzen MBAs und Inflation von Titeln. Die alte Formel „MBA = guter Job“ geht schlichtweg nicht mehr auf. Die einzige Gewissheit ist, dass man danach hohe Schulden hat.“ Neue Formen der Wissensvermittlung im Netz sieht Bachmann dabei als einen Schlüssel.
Sind Massive Open Online Courses das Konzept, das diese Veränderung bewirkt? Anja Wagner: „MOOCs sind eine interessante Entwicklung, wenn auch weniger revolutionär, wie es jetzt in der Diskussion erscheint. Verschiedene Anbieter experimentieren seit einiger Zeit mit verschiedenen Lehrmodellen, die unser klassisches Verständnis von ‚qualitativer’ Bildung via (Hoch-)Schulen noch eine Weile herüber retten.“ Wie Bachmann stellt auch sie die derzeitige Hochschullandschaft in Frage. „Lediglich die Zertifikatsfrage zwecks Vergleichbarkeit der erzielten Ergebnisse bindet das Modell noch an die ‚Good Old School’. Aber auch hier wird bereits mit Alternativen experimentiert.“
Bachmann ist einer derjenigen, die über neue Modelle nachdenken: „Bildung ist heute noch zu sehr eine Einbahnstraße, gerade auch im Online Bereich. Meine Vision wäre eine horizontale Plattform, wo es wieder ums Lernen statt um Bildung geht und alle zur kollektiven Wissensproduktion beitragen. Sprich: Die Dichotomie Lehrer/Student wird aufgehoben und wir werden alle zu Lernenden.“
Wagner glaubt, dass in Zukunft viele Formen des Lernens nebeneinander existieren werden: „Warum sollen nicht zukünftig vielfältige Bildungskarrieren nebeneinander existieren, die sich wechselseitig fördern und fordern? Einzelne Personen werden sich in Zukunft das für sie treffendste Modell selbst zurecht zimmern. Und dieses Modell wird internationale MOOCs ebenso beinhalten, wie lokale Seminare, informelle Lerngruppen oder kollaborative Experimentierräume. Je nachdem, wo sich die Person am wohlsten fühlt.“ Dabei ist sie optimistisch: „Warten wir ab, was die kollektive Intelligenz uns noch an weiteren Entwicklungen zuträgt.“ Es bleibt also spanned.
Dieser Artikel über MOOCs erschien zuerst bei Studis Online.